Es ist ein außergewöhnlicher Weg, den Prof. Dr. Gottfried Jung, Vorstandsmitglied der St. Dominikus Stiftung Speyer, bereits mehrfach gegangen ist – und den er noch immer als Quelle tiefer persönlicher Erlebnisse und Erkenntnisse schätzt. Trotz vieler erstaunter Fragen, die ihn zu Beginn seiner Pilgerreisen oft begleiteten – „Warum tust du dir das an?“, „Warum nicht einfach entspannt am Strand liegen?“ – hat sich Jung immer wieder aufgemacht, auf dem Jakobsweg seine innere Freiheit zu suchen.
Der berühmte Camino Frances, der französische Jakobsweg, ist ihm inzwischen sehr vertraut. Über 800 Kilometer schlängelt sich dieser Weg über die Pyrenäen, durch die beeindruckende Landschaft Nordspaniens und endet schließlich in Santiago de Compostela. Die Strecke ist für ihn längst nicht nur ein körperliches Abenteuer, sondern eine spirituelle Reise. Hier, auf den alten Wegen der Pilger, vereinen sich die Faszination der Geschichte und die Natur zu einer einzigartigen Erfahrung. „Nur wer selbst einmal den Weg gegangen ist, kann die Faszination verstehen“, sagt Jung voller Begeisterung. Und er selbst ist diesen Weg nun schon drei Mal gegangen, ohne dass die Erfahrung jemals an Bedeutung verloren hätte.
Die Entscheidung, den Camino Frances erstmals zu bewältigen, wuchs in Jung über Jahre hinweg. Er wollte sich nach einem langen Berufsleben die Freiheit gönnen, die der Alltag selten bietet. Diese Freiheit, beschreibt er, ist das größte Geschenk des Jakobsweges. Frei von Terminen, Zwängen und dem hektischen Tempo des Berufsalltags öffnet sich eine Welt, die mit jeder Etappe eine tiefere Gelassenheit schenkt. 2017 trat Jung seine erste große Pilgerreise an, und von diesem Moment an ließ ihn das „Pilgervirus“ nicht mehr los. Seither ist er auch auf dem Franziskusweg von Florenz nach Rom und den Camino Portugues von Porto über Santiago bis zum „Ende der Welt“, dem Cabo de Finisterre, gewandert. Jeder Weg brachte neue Erlebnisse, neue Freundschaften und Momente, die ihm die Kraft und die Schönheit der Einfachheit nahebrachten.
Neben der Natur, eindrucksvollen Kirchen, Klöstern und anderen Baudenkmalen aus vergangenen Jahrhunderten sind es die Menschen, die das Pilgern für Jung zu einem unauslöschlichen Erlebnis machen. Der Jakobsweg ist nicht nur ein Pfad durch atemberaubende Landschaften, sondern auch ein Ort der Verbundenheit. Hier treffen Menschen aus allen Teilen der Welt aufeinander – friedlich, offen und hilfsbereit. „Der Jakobsweg ist ein riesiges Friedensprojekt“, erklärt Jung, beeindruckt von der Vielfalt der Pilger, die hier Freundschaften schließen und einander unterstützen. Ein Mann, der ihn zu einem Feigenbaum führte, eine Frau, die Lebensweisheiten auf Zetteln verteilte, oder ein blinder Mann, dem er beim Stempeln des Pilgerpasses half – all diese Begegnungen fügen sich für Jung zu einem Mosaik des Vertrauens und der Menschlichkeit hinzu.
Pilgern ist keine einfache Aufgabe. Es erfordert Geduld, Kraft und Durchhaltevermögen. Auf seinem jüngsten Weg plagte Jung zeitweilig eine Entzündung am Fuß, und zum ersten Mal musste er mehrfach stundenlang durch heftigen Regen und tiefen Schlamm waten. Aber anstatt sich zu ärgern, lernte er, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie kommen. „Nicht ärgern, die Dinge nehmen, wie sie sind.“ Gelassen bleiben!“ Diese innere Haltung, die Fähigkeiten, Unannehmlichkeiten anzunehmen und in ihnen sogar eine Chance zur Selbstreflexion zu sehen, ist eine seiner wichtigsten Lehren auf dem Jakobsweg
Der Jakobsweg führt seine Pilger durch eine beeindruckende Vielfalt an Landschaften, von grünen Tälern über karge Ebenen bis hin zu sanften Hügeln, aber auch Gebirgen. Jung hat hier gelernt, die Natur mit neuen Augen zu sehen. Besonders die frühen Morgenstunden, das langsame Erwachen des Tages, der Tau auf den Gräsern und das glitzernde Laub erfüllen ihn mit Ehrfurcht und Dankbarkeit. Er beschreibt den Jakobsweg als eine Einladung, wieder eins zu werden mit der Natur, jede Pflanze und jede Lichtreflexion als kleines Wunder wahrzunehmen.
Am Ende des Weges wartet die Kathedrale in Santiago de Compostela, das Ziel, auf das Pilger seit 1000 Jahren zusteuern. Auch für Jung ist dieser Moment nach wie vor tief bewegend. „Die Emotionen überwältigen mich, und es fällt mir schwer, die Augen trocken zu halten.“ Fünfmal stand er schon vor der Kathedrale und jedes Mal durchlebte er erneut die Ehrfurcht vor dem uralten Ziel, das Menschen aus aller Welt hier vereint.
Im Pilgergottesdienst in der Kathedrale wird das weltumspannende Projekt, das der Jakobsweg darstellt, spürbar. In mehreren Sprachen werden hier die Anwesenden begrüßt, während das Botafumeiro – das große Weihrauchfass – zum Abschied schwingt und der Gesang einer Schwester die Luft erfüllt. Es ist ein Moment tiefer Dankbarkeit, der für Jung jedes Mal die Reise abrundet und ihn weiter inspiriert.
Für all jene, die selbst den Ruf des Jakobsweges hören, hat Jung einen einfachen Rat: „Nicht zu viel zweifeln, sondern einfach sagen: ‚Ich mach’s!‘“ Der Jakobsweg ist ein Weg zur inneren Freiheit und Klarheit – ein Weg, auf dem körperliche Anstrengung zur Quelle innerer Ruhe wird …
Sein eigener Weg ist noch lange nicht zu Ende. Ein drittes Mal auf den Camino Portugues zu gehen, ist sein nächstes Ziel. Die Erfahrung lehrt ihn, dass jeder Weg eine neue Facette des Pilgerns offenbart. Die Freiheit und Erfüllung, die Jung auf den alten Pfaden Spaniens erfahren hat, werden ihn noch lange begleiten – und lädt uns alle ein, selbst einmal den ersten Schritt zu wagen.